Imam Ghazali RahimuAllah
Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad Al-Ghazali At-Tusi wurde im Jahre 540 (1058) in dem Ort Tabiran (oder Tabaran) nahe Tus in Khorasan, im Osten des heutigen Iran, geboren, einer Region, die damals
für ihre zahlreichen Gelehrten berühmt war. Tus wurde später von den Mongolen zerstört; in unmittelbarer Nähe davon entstand die heutige Stadt Maschhad.
Nachdem sein Vater früh verstorben war, wurde Muhammad Al-Ghazali zusammen mit seinem Burder Ahmad, der später ebenfalls Bekanntheit erlangte, gemäß dem Wunsch des
Vaters in die Obhut eines Lehrers gegeben, der die geistige Erziehung der beiden Brüder übernahm. Al-Ghazali studierte Schafi’i-Fiqh bei dem großen Imam Al-Dschuwaini, der auch „Imam
Al-Haramain”, der Imam der beiden Stätten (Mekka und Medina) genannt wurde und einer der größten Gelehrten seiner Zeit war.
Al-Ghazali gilt auch als Erneuerer (Mudschaddid) des fünften Jahrhunderts und hat auch den Beinamen „Hudschatu’l-Islam”, „Beweis des Islam”, erhalten. Er war ein Mudschtahid im Fiqh, hatte also
die höchste Stufe darin erreicht und konnte selbstständig Rechtspositionen und -urteile ableiten. Al-Ghazali übernahm die wichtige Aufgabe, sich mit den zu seiner Zeit zahlreichen abweichenden
Gruppierungen und philosophischen Strömungen, die dem authentischen Islam widersprechen, auseinanderzusetzen und sie intellektuell zu bekämpfen, wobei er gegen sie auch ihre eigenen,
philosophischen Mittel einsetzte. „At-Tahafut Al-Falasifa” („Die Inkohärenz der Philosophen”) zählt zu seinen bekanntesten und bedeutendsten Werken überhaupt. Vom berühmten Wazir des
seldschukischen Sultans Malik Schah, Nizamu’l-Mulk, wurde Al-Ghazali an die von ihm neu gegründete Nizamija-Madrassa nach Bagdad berufen. Bereits in jungen Jahren erlebte Al-Ghazali auf der Suche
nach der Gewissheit im Glauben und im Zuge seiner Infragestellung des Erkenntnisvermögens der menschlichen Sinne - auch der Vernunft - eine kurze Krise, die er, wie er selbst berichtete, durch
ein Licht, das Allah ihm ins Herz eingab, überwand. Er erkannte dadurch, dass Wissen von Allah und Nähe zu Ihm nicht durch intellektuelle Analyse, Argumentation und Dialektik, sondern letztlich
nur durch göttliche Gnade und spirituelle Erfahrung erlangt werden kann. Diese Erkenntnis sollte eines der wesentlichen Motive in seinem Leben und seinen späteren Werken, auch der Ihja ‘Ulum
Ad-Din, werden.
Im Jahre 490 (1095 n. Chr.) - er lehrte schon etwa 10 Jahre an der Nizamija und war ein berühmter Gelehrter, der sehr gefragte Werke verfasst hatte und der zu einer immens großen Zahl von
Schülern sprach, welche aus der ganzen islamischen Welt kamen -, erlebte Al-Ghazali eine zweite, noch schwerwiegendere spirituelle Krise. Er zweifelte an seiner eigenen Aufrichtigkeit und sah
sich mit dem fundamentalen Gedanken an den eigenen Tod und das Danach konfrontiert, wobei er seine bisherige Gelehrtenkarriere radikal in Frage stellte. Er verließ Bagdad und begab sich auf eine
mehrjährige Wanderschaft, die ihn zur Hadsch nach Mekka, nach Damaskus und Jerusalem (Al-Quds) führte und während der er sich dem Weg der Sufis, der sich durch die unmittelbare Erfahrung
auszeichnet, zuwandte. Den intellektuellen und spirituellen Prozess, den Al-Ghazali in diesen Jahren durchlebte, hat er selbst in seinem Buch „Al-Munqidh min Ad-Dalal“ („Der Erretter aus dem
Irrtum“) wiedergegeben. Später kehrte er nach Tus zurück und unterrichtete dort. Al-Ghazali starb im Jahre 505 (1111) in dem Ort seiner Geburt.
Die Ihja ‘Ulum Ad-Din
Die „Ihja ‘Ulum Ad-Din“, sein wohl berühmtestes Werk und nach überwiegender Auffassung zweifellos eines der bedeutendsten Bücher des Islam, verfasste Al-Ghazali im Laufe mehrerer Jahre während
seiner Wanderschaft. In ihr stellt Al-Ghazali die Gottesfurcht (Taqwa) ins Zentrum aller Handlungen.
Die Ihja ist in vier Teile unterteilt, die jeweils zehn Kapitel enthalten. Der erste Teil befasst sich mit Grundlagen des Wissens und den praktischen Grundlagen des Dins - rituelle Reinheit,
Gebet, Zakat, Fasten, Hadsch oder auch der Qur’an-Rezitation, also Themen aus dem Fiqh, die hier aber auch im Hinblick auf ihre spirituelle Bedeutung und Perfektionierung erläutert werden. Auch
die Glaubensinhalte werden hier behandelt. Der zweite Teil konzentriert sich auf den Mensch in der Gemeinschaft, mit sozialen Aspekten wie Esssitten, Heirat und Ehe, Erwerb des Lebensunterhalts,
Reisen, Brüderlichkeit, Erlaubtes und Verbotenes, Aufruf zum Guten und Verwehrung des Schlechten und ähnlichem. Der dritte und vierte Teil des Werkes beschäftigen sich mit den inneren Dingen, der
dritte Teil mit den schlechten Eigenschaften, die der Mensch überwinden muss, und der Vierte mit den positiven Eigenschaften, die er erreichen soll, um im Diesseits wie im Jenseits Erfolg zu
haben. Darin gibt es beispielsweise Kapitel über Geduld und Dankbarkeit, Furcht und Hoffnung, Armut und Verzicht, Vertrauen in die göttliche Einheit und Versorgung und die Erinnerung an den Tod
und das Jenseits. Letzteres Kapitel ist besonders ausführlich und stellt gewissermaßen den Höhepunkt des Buches dar, auf den die anderen Kapitel zulaufen, in denen dieses elementar wichtige Thema
bereits immer wieder durchscheint.
Die Ihja wurde und wird von der Mehrheit der Gelehrten hoch gelobt. Kritik an dem Werk, die sich insbesondere daran festmachte, dass die Ihja auch eine Reihe zweifelhafter, schwach belegter oder
nicht belegbarer Hadithe enthalte. Viele der großen Gelehrten, auch der Hadithgelehrten, vertreten dazu aber die Position, dass die Verwendung solcher Überlieferungen akzeptabel ist, wenn damit
ein Aufruf zum Guten und eine Warnung vor dem Schlechten, zu mehr Frömmigkeit oder Ehrfurcht vor Allah beabsichtigt wird, und sie nicht zur Ableitung rechtlicher Urteile herangezogen werden.
Zudem haben einige Gelehrte wie der berühmte Kommentator der Ihja, Murtada Al-Zabidi (gest. 1205/1791), nach eingehender Untersuchung festgestellt, dass nur wenige der in der Ihja enthaltenen
Überlieferungen tatsächlich nicht belegbar oder zweifelhaft sind. Al-Zabidis Kommentar der Ihja umfasst zehn Bände und beinhaltet auch eine sehr umfassende Dokumentation der von Al-Ghazali
verwendeten Hadithe. Al-Ghazali hat auch manche Überlieferungen nicht wörtlich, sondern sinngemäß zitiert, was ebenfalls als zulässig betrachtet wird.
Al-Ghazali hat sich in dem Buch nachweislich auch stark auf frühere, ähnliche Werke gestützt und einiges daraus übernommen, insbesondere aus dem „Qut Al-Qulub” von Abu Talib Al-Makki und der
„Risala” von Al-Quschairi, was allerdings keinen Anlass zur Kritik darstellte. Weite Teile der „Ihja“ wurden bereits ins Englische übertragen. Das in Persisch verfasste Buch „Kimja As-Sa’adat”,
das als eine kurze Zusammenfassung der Ihja gilt, ist unter dem Titel „Elixier der Glücksseligkeit” auch in deutscher Übersetzung erschienen.